Kleinlitauen und die Kultur der preußischen Litauer

Heute ist diese Landschaft im Norden der einstigen Provinz Ostpreußen nur noch auf wenigen Landkarten mit einer der Bezeichnungen zu finden, unter denen sie einst eingetragen war: Kleinlitauen, Preußisch-Litauen (auch Preußisch Litthauen oder Preußisch Littauen) auf Deutsch, und Prūsų Lietuva oder Mažoji Lietuva auf Litauisch. In der Geschichte war der Umriss dieser Landschaft nicht mit klaren Grenzen einer Provinz oder eines Bezirks umrissen. Er folgte eher kulturellen und sprachlichen sowie konfessionellen Grenzen und wurde von Deutschen und Litauern nicht immer gleich umgrenzt. Im Wesentlichen handelte es sich bei Kleinlitauen um das Gebiet nördlich des Pregels bis zur Memel und das nördlich des Flusses gelegene Memelland (litauisch Klaipėdos kraštas).

Ein Blick in die Geschichte der Region

Gegen Ende des 13. Jahrhunderts hatte der Deutsche Orden die baltischen Stämme endgültig besiegt und die Besiedlung des Deutschordensstaates begann. Die autochthone Bevölkerung wurde im Laufe der Zeit assimiliert. Das oben umrissene Gebiet nördlich des Pregels war durch die kreuzzugsähnlichen Litauerkriege des Deutschen Ordens in weiten Gegenden von der alteingesessenen Bevölkerung der prussischen Stämme der Nadrauer, Schalauer und Kuren bei Memel zu einer verheerten, menschenleeren Region geworden. Der Kreuzzugsgrund der Christianisierung von Litauen war entfallen, nachdem das Land 1387 christlich wurde. Aber das Land war wüst und es gab dort nur noch die Siedlungsreste der prussischen Schalauer und Nadrauer in der Nähe von Ordensburgen, dazu Reste kurischer Bevölkerung am Haff.

Die Besiedlung der Litauischen Wildnis begann nach der Schlacht bei Tannenberg 1410, die der Deutsche Orden verlor, zunächst noch zögernd durch Prussen und vereinzelt auch Deutsche. Bald wanderten aus Lettland Fischer ein, die sich besonders auf der Nehrung ansiedelten und als Sprache ihren lettischen Dialekt mitbrachten, aus dem sich das Nehrungskurisch entwickelte. Nachdem im Frieden vom Melnosee 1422 die Grenze zwischen dem Ordensterritorium und Polen-Litauen festgelegt wurde, musste der Deutsche Orden Teile von Sudauen an Polen-Litauen abtreten. Diese Grenze blieb bestehen, bis 1919 das Memelland nach Maßgabe des Versailler Vertrags abgetrennt wurde. 

Im Jahr 1525 ging der Deutschordensstaat in das erbliche Herzogtum Preußen unter polnischer Oberhoheit über. Erster Herzog wurde Albrecht von Brandenburg-Ansbach, der letzte Hochmeister des Ordensstaates. Seit im Jahr 1701 Friedrich I. zum ersten Preußenkönig gekrönt wurde, wurde Ostpreußen Teil des Königreichs und später zur Provinz Ostpreußen. Preußen wiederum ging 1871 bei der Reichsgründung im Deutschen Reich auf.

Die Region nördlich des Pregels wurde nach den alten prussischen Bezeichnungen Nadrauen und Schalauen genannt. Mitte des 16. Jahrhunderts lebten bereits an die 30.000 litauische Siedler in der Region. Die „Große Wildnis“ Kleinlitauen wurde bis Mitte des 17. Jahrhunderts hauptsächlich durch Binnenwanderung weiter erschlossen.

Zwischen 1554 und 1721 wurde der gesamte Ostseeraum und das Baltikum von mehr als zehn kriegerischen Auseinandersetzungen verheert. Auch Kleinlitauen wurde dadurch verwüstet. Allein beim schwedisch-polnischen Krieg 1656-1657, fielen die tatarischen Verbände des polnischen Königs ein, töteten 11.000 Menschen und verschleppten 34.000 weitere als Sklaven. 

Einen weiteren großen Rückschlag in der Besiedlung und fortschreitenden Erschließung Kleinlitauens brachte die große Pestwelle 1709-1710. In der gesamten „Litauischen Provinz“ starben damals 160.000 von insgesamt dort lebenden 300.000 Menschen, vor allem Litauer. Besonders die Regionen Gumbinnen und Insterburg wurde schwer getroffen. 

Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. regierte rasch und führte sein Wiederbesiedlungsprogramm das „Retablissement“ ein. Dadurch wurden rund 23.000 Neusiedler ins Land geholt, unter ihnen Salzburger Exulanten sowie französischsprachige und deutschsprachige Schweizer. Sie übernahmen die wüst gewordenen leeren Höfe vor allem im Hauptamt Insterburg.

Um die Region wieder voranzubringen wurde 1724 in Gumbinnen eine Außenstelle der Kriegskammer Königsberg als Deputation eingerichtet, die für die Hauptämter Insterburg, Memel, Ragnit und Tilsit zuständig war. Diese Deputation wurde am 19.8.1736 zusammen mit Masuren in die eigenständige „Litthauische Kriegs- und Domainenkammer“ umbenannt und erweitert.

Nach der der Niederlage Preußens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806-1807 und dem folgenden Frieden von Tilsit wurde die Region dem neuen Regierungsbezirk Litthauen mit Sitz in Gumbinnen zugeordnet. Ab 1808 wurde Preußens Verwaltung durch die Stein-Hardenbergschen Reformen grundlegend erneuert und reorganisiert. In der Folge wurde die Kriegs- und Domänenkammer zum „Regierungsbezirk Litthauen“ mit Sitz in Gumbinnen umgewandelt. Mit der Reichsgründung im Jahr 1871 ging das Königreich Preußen im Deutschen Reich auf und mit ihm auch Ostpreußen, das später zur Provinz Ostpreußen wurde.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging der nördliche Teil der Provinz, das fast genau das ganze Kleinlitauen umfasst, an die Sowjetunion und wurde Teil der Kalinigradskaja Oblast, des Königsberger Gebiets. Bis auf das Memelland zwischen 1923 und 1939 gehörte die in Litauen „Kleinlitauen“ genannte Region nie zum litauischen Staatsgebiet.

Die Bedeutung von Kleinlitauen/Preußisch Litauen in Geschichte und Kultur

Die preußischen Litauer unterschieden sich von den Litauern im Großfürstentum Litauen durchaus. Sie waren Protestanten während die Litauer im Großfürstentum katholisch waren und einer starken Polonisierung während der Realunion 1569-1795 unterlagen. Nach der 3. Teilung Polens 1795 ging Litauen 1807 an Russland. Zum Ende des 1. Weltkriegs erklärte sich Litauen 1918 zu einer souveränen Republik.

So entwickelten sich die Litauer und Kleinlitauer im Laufe der Zeit immer weiter auseinander. Was blieb, war die eng verwandte Sprache. Die meisten preußischen Litauer waren zweisprachig. Sie selbst bezeichneten sich als Lietuwininkai. Die Litauer in Litauen hingegen bezeichneten sich als Lietuviai. Die preußischen Litauer waren überwiegend Landbewohner und siedelten hauptsächlich in den Gebieten der einstigen Großen Wildnis. Die Deutschen lebten meist in den Städten. Das begann sich erst mit dem „Retablissement“ zu ändern. 

Die protestantische Kirche förderte gemeinsam mit dem preußischen Staat das preußische Litauertum, sowohl was die Sprache, als auch was das wirtschaftliche Fortkommen betraf. Litauischsprachige wurden in Königsberg zum Pfarrer ausgebildet und in die Pfarreien entsandt, es wurde in vielen Kirchen litauisch gepredigt. Selbst im städtischen Bereich wie in Insterburg war das so, dort wurde bis 1912 in der Lutherkirche litauisch gepredigt.

Auch an der kulturellen Entwicklung in Litauen hatte Preußisch-Litauen einen Anteil. So gilt der Pfarrer und Dichter Christian Donalitius (litauisch Kristijonas Donelaitis) heute in Litauen als Nationaldichter. Mit seinen „Metai“ (Jahreszeiten) entstand die erste Kunstdichtung in litauischer Sprache. Die Entwicklung des preußischen Litauertums ließ dort die litauische Schrift- und Literatursprache entstehen und in Preußisch Litauen erschienen auch das erste Buch in litauischer Sprache, die erste litauische Bibel und die erste Zeitung. Auch ein erstes Wörterbuch und eine Grammatik in litauischer Sprache entstanden in Ostpreußen.

Auch politisch gesehen gingen von Kleinlitauen wichtige Impulse aus, als es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um das Wiedererstehen Litauens als Staat ging. Was sich zwischen Litauern und den Bewohnern Kleinlitauens sowie den Memelländern allerdings nicht herausbildete, war die Idee in einem gemeinsamen Staat Litauen zusammenzuleben.

Durch die Zuwanderung nicht nur von evangelischen Litauern, sondern auch von Salzburgern, französischsprachigen Schweizern, kleinen Gruppen von Hugenotten in diesen nordöstlichen Teil Ostpreußens war eine Gesellschaft entstanden, die man heute multi-ethnisch und multikulturell nennen würde. 

Nach Kriegsende 1945 wurde das fast mit Kleinlitauen identische Gebiet südlich der Memel an die Sowjetunion übertragen. Dort wurde es zur Kaliningradskaja Oblast, dem Königsberger Gebiet. Die nach der großen Flucht Anfang 1945 noch übrigen Teile der Vorkriegsbevölkerung wurde durch die Rote Armee teils zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verbracht, teils vertrieben oder ermordet. Das nördlich der Memel liegende Memelland wurde in die Litauische Sowjetrepublik eingegliedert. Dort gab es keine systematische Vertreibung der preußischen Litauer. Die dort verbliebenen oder aus den Arbeitslagern zurückkehrenden einstiegen um die 20.000 „Memelländer“ konnten bleiben, sofern sie 1947 die sowjetische Staatsbürgerschaft annahmen. Gemäß des deutsch-sowjetischen Vertrags vom 8. Juni 1958 konnten etwa 6000 Memelländer in die Bundesrepublik übersiedeln. Die Zahl der in der Litauischen Sowjetrepublik verbliebenen Memelländer/preußischen Litauer dürfte etwa gleich groß gewesen sein. 

Nachdem sich Litauen am 11. März 1990 als von der Sowjetunion unabhängig erklärt hatte, versuchte man das preußisch-litauische Erbe als wichtigen Teil der gesamtlitauischen Kultur und Geschichte zu bewahren. 

Kleinlitauen ist seit dem Ende der Sowjetunion Teil der Russischen Föderation und gehört zur Kaliningradskaja Oblast, dem westlichsten Gebiet der Föderation und ist ohne direkte Landverbindung zum Mutterland.

Es lohnt sich, auf einer Reise durch die Grenzregion zwischen Litauen, dem Memelland und dem heute russischen Kleinlitauen diese Region, ihre Kulturen und ihre Geschichte kennenzulernen.