Religionen im Baltikum

Betrachtet man die Religionen, ihre ganz unterschiedliche Verbreitungsgeschichte und ihre heutige Lage, erkennt man sehr schnell, dass das Baltikum aus drei sehr verschiedenen Ländern besteht mit genauso verschiedenen historisch-kulturellen Prägungen. Entsprechend unterscheidet sich dort auch die Verbreitung der Konfessionen. Sogar die gemeinsam unter sowjetischer Oberhoheit verbrachten Jahrzehnte mit ihren atheistisch geprägten Einflüssen hinterließen recht unterschiedliche Spuren.  

Religionen in Estland

Der zur Christianisierung Livlands gegründete Schwertbrüderorden eroberte schnell Livland und Estland, das seit Urzeiten von finno-ugrischen Stämmen besiedelt war. Der Versuch sich vom Bischof Albert in Riga von Livland ganz unabhängig zu machen, führte zu einem Bündnis mit König Waldemar II. von Dänemark. Papst Gregor IX. bestätigte die dänischen Ansprüche im Jahr 1236. Die Niederlage gegen die Litauer in der Schlacht von Schaulen 1236 und deren weiteres Vorgehen auf Riga ließ nur noch die Auflösung des Schwertbrüderordens und Übernahme in den Deutschen Ordens zu.

Im Jahr 1346 fielen auch die bis dahin zu Dänemark gehörenden estnischen Regionen an den Orden. Die heidnischen Liven und Esten wurden bekehrt, die damals hochmodernen Strukturen des Ordensstaates wurden eingeführt und Siedler kamen vor allem aus Deutschland ins Land, sie waren die Vorfahren der Deutschbalten. Nachdem bereits 1523 die ersten protestantischen Prediger Tallinn erreichten, schlossen sich die Städte Tallinn, Riga und Tartu (Dorpat) 1533 der Reformation an. Nach dem Ende des Ordensstaats kam der ganze Norden Estlands unter schwedische Oberhoheit und nahm 1561 die Reformation an. Der Süden Estlands wurde Teil des Herzogtums Livland, das 1629 ebenfalls zu Schweden kam und die Reformation annahm. Durch die zahlreichen Bande ins protestantische Skandinavien und die weitreichenden Kontakte der Hansestädte verbreitete sich der Protestantismus rasch.

Vor allem die bestimmende Oberschicht der Deutschbalten trug stark dazu bei, dass der Protestantismus zur bestimmenden Konfession in Estland wurde. Das blieb auch so, nachdem Estland 1710 zum Zarenreich kam. Zwar wurde die russisch-orthodoxe Konfession von der russischen Verwaltung stark begünstigt, doch blieb der Protestantismus bis zur russischen Revolution die zahlenmäßig bei weitem stärkste Konfession in Estland. Noch 1934 während der ersten Unabhängigkeit Estlands bekannten sich 78% der Esten als Mitglieder der estnischen evangelisch-lutherischen Kirche. Im Jahr 1939 führte der Hitler-Stalin-Pakt zur Aussiedlung eines großen Teils der evangelischen Deutschbalten in den Warthegau. Während der Sowjetzeit nach Ende des 2. Weltkriegs nahm die Mitgliederzahl der evangelischen Kirche weiter stark ab. Dazu hatte einerseits der Druck seitens der UdSSR hin zum Atheismus geführt, wie auch die Abwanderung der Deutschbalten.

Heute genießt die lutherische Konfession eine gewisse Förderung – auch ob ihrer Unterstützung der Freiheitsbewegung Ende der 1980er Jahre. Sie wird bei offiziellen Gelegenheiten mehr als eine Art liebgewordener Tradition aus der Geschichte präsentiert, war sie doch untrennbar mit der einstigen Oberschicht verbunden.

Heute herrscht im souveränen Estland Religionsfreiheit. Zwar bezeichnet sich die Mehrzahl der Esten christlichen Werten verpflichtet, Kirchenmittglied ist jedoch nur noch jeder dritte Este. Nur noch 14,88% der Esten bekennen sich zur evangelisch-lutherischen Kirche, 13,9% sind orthodox. Daneben gibt es jeweils einige Tausend Katholiken, Baptisten, Mormonen und Zeugen Jehovas. Fast völlig ausgelöscht sind die jüdischen Gemeinden, nur noch etwa 1.500 Esten geben an Juden zu sein.

Religionen in Lettland

Das heutige Lettland war seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. von finno-ugrischen Stämmen besiedelt, die aber nach und nach von indogermanischen Stämmen, den Vorfahren der Letten und Litauer verdrängt wurden. Der Schwertbrüderorden christianisierte die heidnischen Baltenstämme, seine Niederlage in der Schlacht von Schaulen (Šiauliai) führte 1236 zur Eingliederung Lettlands in den Ordensstaat, Livland wurde im folgenden Jahr ebenfalls Teil des Ordensstaates. Durch diese Unterwerfung wurden die Stämme christianisiert und eine Welle deutsche Siedler kam ins Land. Sie stellten sehr bald die Oberschicht in den Städten und auf dem Land die Großgrundbesitzer.

Durch die Umwandlung des Ordensstaats in ein erbliches Herzogtum und die Einführung der Reformation wurden auch die lettischen und livländischen Territorien lutherisch. Das Ende des livländisch-litauischen Krieges mit der Union von Wilna führte 1561 zur Teilung von Livland, die estnischen Landesteile gingen an Schweden, Kurland und einige weitere Landesteile mit Riga kamen zu Polen-Litauen, einige kleine Landesteile an Dänemark. Nach der Eroberung von Livland durch die Schweden 1629, kam der Südosten mit Dünaburg als Polnisch-Livland zu Polen, Kurland blieb Herzogtum unter polnischer Oberhoheit. Nach dem Großen Nordischen Krieg 1700-1721 wurden Estland und Livland im Frieden von Nystad 1721 Russland zugeschlagen. Nach der dritten Teilung Polens 1795 kamen auch Kurland und Polnisch-Livland (Lettgallen) zu Russland. Damit war das ganze Baltikum russisch, woran sich bis zum Ende des 1. Weltkriegs nichts änderte.

Die Teilung Lettlands in die zu Schweden gehörenden Landesteile und die Regionen unter polnischer Hoheit hatte auch Einfluss auf die Verteilung der Konfessionen in Lettland. Bis heute ist im Südosten die römisch-katholische Kirche stark vertreten, dort hatte die Gegenreformation während der polnischen Herrschaft Fuß fassen können. Nach der Übernahme durch das Zarenreich erfolgten Russifizierungsversuche, im Zuge derer auch die orthodoxe Kirche nach Lettland kam, die Rolle der evangelisch-lutherischen Kirche aber kaum beeinträchtigte. Während der Russifizierung durch die Sowjetunion überlebte die orthodoxe Kirche den propagierten Atheismus. Heute ist sie im Osten Lettlands unter den russischstämmigen Einwohnern wieder stark vertreten. Die bei weitem größte Mitgliederzahl hatte bis 1939 aber die evangelisch-lutherische Kirche. Sie war die Konfession der deutschbaltischen Oberschicht und erlebte nach dem vom Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten Exodus der Deutschbalten einen großen Aderlass.

Im heutigen Lettland bekennen sich zur evangelisch-lutherische Kirche 22 %, zur katholischen Kirche  der Letten 18%, zur orthodoxen Kirche 11%. Mehr noch als in den anderen baltischen Ländern, zeigt sich in Lettland ein Hang zu alten vorchristlichen lettischen Glaubenstraditionen (Dievturiba), die der Sehnsucht des modernen Menschen entgegenkommen, im Einklang mit der Natur zu leben. Besonders das Johannisfest zur Zeit der Sommersonnenwende in den hellsten Nächten des Jahres wird ganz groß gefeiert mit vielen alten Bräuchen.

Religionen in Litauen

Zwar sind auch die Litauer Westbalten und herkunftsgeschichtlich den Letten sehr nahe, doch ist ihre konfessionelle Struktur ganz anders geprägt, hat doch hier die Reformation nie wirklich Fuß fassen können. Anders als die baltischen Nachbarstaaten, war Litauen seit 1253, als Mindaugas auch die Nachbarstämme gewaltsam einte, ein souveränes Großfürstentum und blieb es letztlich bis zur dritten Teilung Polens 1795. Zwar fiel Litauen nach dem Tod von Mindaugas 1263 wieder vom christlichen Glauben ab. Doch Großfürst Jogaila (poln. Wladyslaw II. Jagiello) heiratete 1386 die polnisch Jadwiga genannte polnische Thronerbin Hedwig von Anjou, trat zum Christentum, übernahm die polnische Königskrone und begründete damit sowohl die Jagiellonen-Dynastie als auch die polnisch-litauische Personalunion. Ab 1569 waren Polen und Litauen dann in der polnisch-litauischen Realunion vereint und ein Großreich.

Eine nennenswerte deutschbaltische Ansiedlung hatte es in Litauen nicht gegeben. Die Oberschicht in Litauen stellte der litauische Adel, der 7-10% der Bevölkerung ausmachte und stark polonisiert war. Da Litauen aber auch weite Teile Weißrusslands und der Ukraine beherrschte, zählte der orthodoxe Glaube als zweitstärkste Konfession des Landes.

Das südlich an Litauen grenzende Herzogtum Preußen hatte die Reformation bei der Gründung 1525 eingeführt. Herzog Albrecht unterstützte die Verbreitung der Reformation auch in Litauen.  Es wurden Pastoren dazu ausgebildet, in litauischer Sprache zu predigen. Schon 1547 erschien in Königsberg das erste gedruckte Buch in litauischer Sprache. So fasste der Protestantismus auch in Litauen schnell Fuß und stellte Mitte des 16. Jh. vor allem im südlichen Litauen bereits die Mehrheit. Das änderte sich als 1569 Jesuiten ins Land kamen und die Gegenreformation einleiteten. Sie gründeten 1579 die katholisch ausgerichtete Universität Vilnius. Schnell zog die Gegenreformation den Adel wieder auf die katholische Seite, als radikale Protestanten die Aufhebung der Leibeigenschaft forderten. Es gelang der katholischen Kirche 1596 die Kirchenunion von Brest herbeizuführen. Von nun an behielten das Gros der Orthodoxen im Großfürstentum Litauen zwar ihren Ritus, erkannten aber den Papst als ihr Kirchenoberhaupt an – die bis heute bestehende Unierte Kirche war geboren. Die protestantischen Litauer, die ihren Glauben behalten wollten, wanderten nach Preußen ab, wo sie sich vornehmlich nördlich des Pregels ansiedelten. Diese Region wurde lange auch offiziell "Preußisch Littauen" genannt.

Nach der dritten Teilung Polens 1795 kam auch Litauen bis 1918 unter russische Oberhoheit. Die Sowjetzeit mit ihren atheistischen Bestrebungen und Versuchen der Russifizierung konnte an der religiösen Orientierung der Litauer nichts ändern.

Die katholische Prägung durch die lange Zugehörigkeit zu Polen-Litauen ließ sich nicht erschüttern. Noch heute (Zensus 2011) bekennen sich 77% der Bevölkerung zur römisch-katholischen oder Unierten Kirche. Nur 5% der litauischen Bürger gehören heute zur orthodoxen Konfession, sie sind fast ausschließlich russischstämmig, alle anderen Religionsgemeinschaften kommen nur auf weniger als ein Prozent der Bevölkerung. Somit ist Litauen auch bis heute konfessionsmäßig so homogen strukturiert wie kein anderes baltisches Land und ähnelt insoweit Polen. 

Viele Städte in den drei baltischen Ländern waren wie beispielsweise Riga oder Vilnius vor dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Besatzung ausgesprochene Hochburgen jüdischer Kultur und jüdischen Lebens. Das Resultat des Holocaust traf die drei Baltenrepubliken in ähnlicher Weise, die jüdische Kultur wurde mitsamt nahezu aller Spuren ausgelöscht. In allen drei Ländern versucht man heute zu retten, was noch zu retten ist, wiederaufzubauen, was aufzubauen ist, und bemüht sich um eine Wiederbelebung jüdischer Institutionen.