Estlands “brennende Steine”
Estland ist das einzige Mitgliedsland der Europäischen Union, das Ölschiefer seit Jahrzehnten ununterbrochen großindustriell nutzt und daher entsprechende Erfahrungen aufweist. Nicht von ungefähr wird in Estland seit mehr als 20 Jahren die weltweit einzige internationale Fachzeitschrift „Oil Shale“, die sich speziell dem Ölschiefer widmet, herausgegeben.
Ölschieferbergbau mit Tradition
Schon im Jahre 1791 erschien in St. Petersburg in deutscher Sprache eine Abhandlung „von einer feuerführenden Erde aus der Revalschen Stadthalterschaft“ (Georgi 1791). Und 1916 wurden aus dem damals russischen Estland 22 Eisenbahnwagen dieser brennbaren Steine für Testzwecke nach Petrograd gebracht. Der nach einem lokalen Namen als Kukersit bezeichnete estnische Ölschiefer bildet mehrere 1,6 bis 2,9 m mächtige Flöze, die je nach ihrer Tiefenlage zwischen 5 und 70 Metern teils im Tagebau, teils unter Tage abgebaut werden. Kukersit ist arm an Wasser und Schwefel. Seine organischen Bestandteile erreichen 65 %, der Heizwert schwankt zwischen 4 und 20 MJ/kg und erreicht damit den von Braunkohle. In den ersten Jahren nach dem 2. Weltkrieg vor allem zur Gaserzeugung für Leningrad und Tallinn genutzt, steht seit der Inbetriebnahme von zwei Großkraftwerken (1615 und 765 MW) 1965 und 1973 in unmittelbarer Nähe zur estnisch-russischen Grenze bei Narva die Verwendung als Brennstoff im Vordergrund. Die Rückstände finden teilweise in der Baustoffindustrie Verwendung.
Das Ölschieferbergbau- und Industriegebiet im Nordosten Estlands erstreckt sich über mehr als 430 km². Die ökologischen Auswirkungen der Ölschieferindustrie sind nicht zu übersehen. 60 % aller CO2-Emissionen und 90 % aller Industrieabfälle Estlands konzentrieren sich hier. Je t Ölschiefer müssen 10 bis 23 m³ Grundwasser abgepumpt werden. Graue, nur spärlich bewachsene Halden mit mehr als 230 Mill. t Material nehmen allein 20 km² in Anspruch.
Nach 1980 begann die Ölschieferförderung Estlands zu sinken, weniger wegen der ökologischen Folgen als vielmehr nach Inbetriebnahme eines Atomkraftwerkes in der UdSSR westlich von Leningrad. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die Förderung stabilisiert. Die mit Ölschiefer beheizten Kraftwerke decken nicht nur 90 % des estnischen Elektroenergiebedarfs, sondern versetzen das Land in die Lage, überschüssigen Strom nach Russland, vor allem zur Versorgung von St. Petersburg, nach Lettland sowie über eine untermeerische Leitung nach Finnland zu exportieren.
Energiepolitische Unabhängigkeit
Estland hat, wie auch die beiden anderen baltischen EU-Länder Lettland und Litauen, erst sit 2020 eine Verbindung zum mittel- und westeuropäischen Verbundnetz. Somit bedeutete der heimische Ölschiefer für Estland Versorgungssicherheit und verringerte die Risiken einer Abhängigkeit vom großen Nachbarn im Osten. Erdgasimporte aus Russland beschränken sich darauf, den Haushaltsbedarf zu decken. Das größte Kraftwerk in den drei baltischen EU-Ländern ist das Atomkraftwerk Ignalina in Litauen mit zwei 1500-MW-Anlagen vom Typ Tschernobyl. Nachdem der erste Block schon 2005 vom Netz ging, wurde einer entsprechenden EU-Vereinbarung folgend der zweite Block im Jahre 2009 abgeschaltet. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Bestrebens, von Stromlieferungen aus Russland unabhängig zu sein, bereiten die drei baltischen Republiken, möglicherweise unter Beteiligung Polens, den Bau eines neuen Atomkraftwerkes vor. Dies würde auch für Estland vorteilhaft sein. Aber mindestens mittelfristig hält die staatliche estnische Energiegesellschaft Eesti Energia AS daran fest, sich vorrangig auf den heimischen Ölschiefer zu stützen. Um die CO2-Emissionen zu senken und Schwefeldioxid zu binden, hat die Umrüstung der Kraftwerke von der Staubfeuerung auf die speziell für Problembrennstoffe entwickelte zirkulierende Wirbelschichtfeuerung begonnen, die damit erstmalig in der Welt auch mit Ölschiefer zum Einsatz gelangt. So konnten – nach Angaben von Eesti Energia AS – die Emissionswerte sogar schon unter die von der EU gesetzten Grenzen gesenkt werden. Bei einer Förderung von jährlich 12 bis 13 Millionen t reichen die Reserven noch 35 Jahre, ehe neue Ressourcen aufgeschlossen werden müssten.
Etwa ein Fünftel des in Estland geförderten Ölschiefers dient der Gewinnung von Schieferöl. Die Verschwelung liefert je t Ausgangsstoff bis zu 167 kg Öl, was den Kukersit im internationalen Vergleich zu einem hochwertigen Ölschiefer macht. Das Schieferöl unterscheidet sich von anderen schweren Ölen durch einen niedrigeren Stockpunkt (d.h. die Temperatur, bei der eine viskose Flüssigkeit aufhört zu fließen), ist arm an Schwefel und Schwermetallen. Es kann zu Treibstoffen aufgearbeitet oder als Heizöl sowie bei der Herstellung von Imprägnier- und Holzschutzmitteln, Farben, Phenolen u.a. eingesetzt werden. Im Jahre 2006 hat Eesti Energia AS rund 130 000 t Schieferöl produziert. Angesichts der hohen Weltmarktpreise für Öl und Ölprodukte ist beabsichtigt, die Produktionskapazität auf ca. 700 000 t zu erhöhen. Besonders in der chemischen Weiterverarbeitung des Schieferöls wird eine Chance gesehen, die Investitionsbereitschaft für die Ölschieferindustrie zu erhöhen.
Vor dem Hintergrund des derzeitigen Ukrainekonfliktes und der damit auch für Estland verbundenen Energieunsicherheit und Ressourcenverknappung, ist von einer Abkehr der Ölschiefernutzung zumindest mittelfristig nicht auszugehen.