Das Inselreich vor Estlands Westküste

Man mag es kaum glauben, wenn man die Größe Estlands im Blick hat: Vor der Westküste des nördlichsten Baltenstaates finden sich auf einer Fläche von 4120 km² sage und schreibe 1.521 große, kleine und winzige Inseln. So hat es der Geograf August Loopman 1996 für das estnische Umweltministerium in der Dokumentation "Liste der estnischen Meeres-Inseln" festgestellt. Heute wird dieses Inselreich im Biosphärenreservat "Westestnische Inseln" auf einer Fläche von 156.000 ha geschützt.

Das Misstrauen der Sowjetunion besonders den baltischen Völkern gegenüber hatte zur Folge, dass die Inselwelt vor der Küste Sperrgebiet war und für Normalbürger ohne Sondergenehmigung unerreichbar blieb. Der Natur allerdings tat das ausgesprochen gut, denn so blieb die westestnische Inselwelt als nahezu unberührte Landschaft erhalten.

Noch heute liegt Estlands Inselparadies daher still und wie traumverloren vor der Westküste des Landes und scheint Lichtjahre von allen Touristenströmen entfernt, dabei ist Tallinn gar nicht weit. Hier findet der Besucher noch genau das, was er in Estland sucht: eine unverbrauchte, weitestgehend sich selbst überlassene Natur und ursprüngliche Ortschaften. Besonders lohnend ist ein Besuch der vier großen Inseln Saaremaa (Ösel), Hiiumaa (Dagö), Muhu (Moon) und Vormsi (Worms). Sie eignen sich ideal für Fahrraderkundungen und Fahrradtouren wie innerhalb der Fahrradreise „Estlands Westküste und Inseln“. Dort finden Urlauber menschenleere Küsten mit malerischen Leuchttürmen und Orten, in denen Estland noch ganz Estland ist. Besonders Saaremaa ist eine für den Fahrradurlaub wie geschaffene Insel.

Saaremaa - Estlands größte Insel

Mit einer Fläche von 2672 km² ist Saaremaa die größte estnische Insel und zugleich die viertgrößte Ostseeinsel. Sie liegt wie ein Sperrriegel vor der Rigaer Bucht und schließt diese nach Norden ab. Zu sowjetischer Zeit war sie ein streng bewachtes Grenzgebiet und auch für Esten nur mit Sondergenehmigung zugängig. So blieb die Natur intakt mit ihren Dünen, den stark zergliederten 1.500 Küstenkilometern mit weiten Stränden und schroffen Steilküsten, sowie den vielen wie Finger ins Meer ragenden Halbinseln. Größte Halbinsel ist Sõrve (Sworbe). Sie erstreckt sich knapp 30 Kilometer in den Rigaischen Meerbusen hinaus und bildet die Südspitze von Saaremaa, die in Sääre vom 52 Meter hohen Leuchtturm markiert wird.

Charakteristisch für das Inselinnere aber ist der Wald, der fast die Hälfte der Insel bedeckt, unterbrochen von weiten Heideflächen und Mooren. Von den Wacholderwäldern weht im Sommer bei trockenem Wetter ein leichter Wacholderduft über die Insel. Auf Saaremaa haben Meteoriteneinschläge die Landschaft vor 2.700 Jahren mitgestaltet und hinterließen bei Kaali sieben Kraterseen. Auf Saaremaa findet man ebenso noch die traditionell von Steinwällen abgeschirmten Dörfer mit den reetgedeckten Häusern, dazu viele Windmühlen und in den Gasthäusern das leckere selbst gebraute Bier mit der charakteristischen Wacholdernote. Die Insel hat viel zu bieten, ob es Estlands ältestes Naturschutzgebiet bei Vilsandi ist, wo der Reisende Zehntausende Seevögel beim Brutgeschäft beobachten kann, oder ein Ausflug in den Südwesten und den weiten Stränden und schönen Badebuchten. Kuressaare (Arensburg) ist der Inselhauptort und mit seinen 16.000 Einwohnern eine veritable Kleinstadt. Besuchermagnet ist die wuchtige, quadratische angelegte Bischofsburg von 1384, die Estlands älteste komplett erhaltene Burg ist. Gut geschützt liegt sie hinter 20 Meter hohen Mauern. Dort befindet sich das Insel- und Stadtmuseum. Auf einer Freilichtbühne finden Sängerfeste statt.

Schöne Souvenirs sind die aus Dolomit gefertigten Kunstgewerbeartikel. Das Gestein wird in den Steinbrüchen bei Kaarma (Kermel) abgebaut. Auch die Holzarbeiten aus Wacholder sind wegen ihres leichten Wacholderdufts beliebte Mitbringsel. Die touristische Infrastruktur auf Saaremaa ist gut, die Insel hat sich mit einem entsprechenden Hotelangebot auch einen Namen als Spa- und Wellnessoase erworben.

Muhu – Die Insel der Fischerboote mit Seele

Muhu, die Insel im Moonsund ist von Saaremaa aus über einen seit 1896 bestehenden Damm zu erreichen. Zwischen Muhu und dem Festlandhafen Virtsu (Werder) besteht eine Fährverbindung.

Die zehn Kilometer vor der Westküste nordöstlich vor Saaremaa liegende drittgrößte Insel Estlands ist knapp 200 km² groß. Sie ist nur sehr spärlich bewohnt, ein paar vereinzelte Gehöfte sind idyllisch in die Landschaft eingebettet sind.

Eine prächtige Natur mit üppigen Wäldern und immer wieder großen Findlingen zeichnen das Landschaftsbild der Insel. Das Meer mit den weiten Stränden im Inselsüden und den Steilküsten im Norden prägt die alte Fischerinsel. Dazwischen finden sich weitläufige flache, von Wacholder bewachsene und teils von dichten Moosen bedeckte Küstenabschnitte. Einsame Feldwege und betuliche Landstraßen erschließen die Insel für Radfahrer, immer mal wieder führt der Weg an alten Bockwind- und Holländer-Mühlen vorbei.

Sehenswert ist die kleine Katharinenkirche, die auch Dorfkirche von Liiva genannt wird und schon 1267 erstmals erwähnt wurde. Das turmlose Gebäude gilt als architektonisch vollständiges und noch immer stilgetreues Beispiel für eine Landkirche des mittelalterlichen estnischen Kirchenbaus.  Kulturhistorisch besonders wertvoll sind die im Chorraum erhaltenen Fragmente der Wandmalerei aus dem 13. Jahrhundert. Eine kleine Perle ist das Heimatmuseum, das die Inselgeschichte erzählt. Dabei nimmt es auch die Funktion eines Freilichtmuseums mit alten Gebäuden ein. Und es informiert über die ganz besondere  Tradition der Ehrengräber für ausgediente Fischerboote. Diese nämlich wurden nicht etwa einfach verfeuert. Weil die Fischer glaubten, dass jedes Fischerboot eine Seele hat, konnte man sie nicht einfach entsorgen, wenn sie in Ehren ergraut und nicht mehr seetüchtig waren. Sie bekamen kieloben aufgestellt einen Ehrenplatz vor dem Fischerhaus. Wenn das Boot dann irgendwann zerfiel, bewahrte man die Reste sorgfältig bis zum nächsten Johannisfest am 24. Juni auf, verabschiedete sich von der Seele des Bootes und übergab es dem Feuer.

Hiiumaa – Die Insel der Leuchttürme

Hiiumaa gehört ebenfalls zu den Moonsund-Inseln und ist die Nachbarinsel von Saaremaa. Sie ist sowohl von dort, als auch vom Festland aus mit der Fähre zu erreichen. Die mit 965 km² Fläche zweitgrößte Insel Estlands ist zugleich eine der ältesten Inseln der Welt, ist sie doch vor rund 455 Millionen Jahren durch einen Meteoriteneinschlag entstanden. Hiiumaa gilt als Insel der Leuchttürme. Ein ganz besonderes Abenteuer ist ein Besuch der Insel im Winter. Wenn die Ostsee nämlich zugefroren ist, wird Europas längste Eisstraße in Betrieb genommen und dann geht es mit dem Auto nach Hiiumaa. So ist ein Inselbesuch auch in der kalten Jahreszeit ein ganz besonderes Vergnügen.
Im Sommer hingegen kommen vor allem Radfahrer und Wanderer auf ihre Kosten. Im Inselinneren gibt es unberührte Natur mit viel Wald, denn fast zwei Drittel der Inselfläche sind bewaldet. Rund ein Zehntel des Waldes besteht aus Wacholderhainen. Relativ klein ist auf Hiiumaa der Anteil von Mooren und Sümpfen. Im westlichen Teil der Insel befinden sich ein paar Seen, der Größte ist der Tihu Suurjärv mit einer Fläche von rund 85 ha. Unterwegs sollte man sich in Malvaste die kleine 1906 errichtete hölzerne und reetgedeckte orthodoxe Elija-Kapelle mit Glockenturm nicht entgehen lassen und auch einen Stopp am Museum von Hiiumaa einlegen, das in Malvaste über die Inselgeschichte und die Traditionen seiner Bauern informiert.

Berühmt aber ist die Insel vor allem für die historischen Leuchttürme. Der Leuchtturm Kõpu ist das Inselwahrzeichen. Er ist der weltweit drittälteste Leuchtturm, der schon 1531 in Betrieb genommen und 1659 auf seine heutige Höhe ausgebaut wurde. Er steht auf der mit 67 Metern höchsten Erhebung der Insel und ist 36 Meter hoch. Der 43 Meter hohe Leuchtturm von Tahkuna hat ebenfalls eine interessante Geschichte, denn er wurde 1871 von der Verwaltung des Zarenreichs auf der Weltausstellung in Paris gekauft und im Jahr darauf in Tahkuna aufgestellt.

Vormsi – Die schwedische Insel in Estland

Vormsi ist mit 92 km² Fläche die viertgrößte Insel Estlands und gehört zu den Moonsund-Inseln vor der Westküste. Die Nachbarinsel von Hiiumaa ist vom Festland durch den drei Kilometer breiten Voosi-Sund getrennt. Zur Sommerzeit ist die Insel vom Festland aus mit der Fähre zu erreichen. Von Haapsalu aus besteht eine Verbindung mit dem zehn Kilometer entfernten Sviby auf Vormsi.

Schwedische Traditionen prägten Vormsi in der Vergangenheit. Schon im 13. Jahrhundert ist eine schwedische Besiedlung der Insel belegt, selbst der estnische Name Vormsi leitet sich vom schwedischen Inselnamen Ormsö ab. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten hier rund 3.000 schwedisch stämmige Bewohner, die 1944 fast alle  vor der Einnahme durch die Rote Armee übers Meer nach Schweden flohen. Heute leben etwa 350 Menschen auf Vormsi.

Allein schon die Lage der Insel zwischen Hiiumaa und der Festlands-Halbinsel Noarootsi ist malerisch, sie ist ein Kleinod für Wanderer und Radfahrer. Das merkt man vor allem am Wochenende, wenn die Insel zum Naherholungsgebiet für die Tallinner wird. Im Süden und Südwesten mit schönen Badeplätzen und Stränden gesegnet, ist Vormsi von großflächigen Wäldern und Wacholderhainen bedeckt. Dazwischen finden sich immer wieder mächtige Findlinge und hier und da eine Windmühle. Wo eine Insel ist, gibt es auch Leuchttürme, auf Vormsi ist dies im Inselnordwesten der schon 1864 errichtete Leuchtturm von Saxby. An der Ostküste der Insel steht der Leuchtturm von Norrby.

In Hullo, der Inselhauptstadt, befindet sich die turmlose evangelische St.Olav-Kirche. Ihr Schiff wurde 1632 an der Stelle einer alten Holzkirche errichtet. Zwar findet sich an der Tür die Zahl 1219, doch wirklich belegt ist hier eine Vorgängerkirche erst aus dem 14. Jahrhundert. Vor der Kirche stehen zwei Gedenksteine für den schwedischen Missionar Lars Johan Österblom, der im 19. Jahrhundert auf Vormsi tätig war, und den schwedisch-estnischen Politiker Hans Pöhl (1876–1930), der das Kulturleben der Estlandschweden belebt hat. Auf dem schwedischen Friedhof neben der Kirche sind zahlreiche typisch schwedische Radkreuze aus den Jahren von 1743 bis 1923 zu entdecken.