Die Universitätsstadt Tartu

Tartu, die grüne Studentenstadt gilt als älteste Stadt des Baltikums und wurde schwedisch und deutsch einst Dorpat genannt. Die mit rund 100.000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Estlands ist heute das geistige Zentrum des Landes und liegt beiderseits des Flusses Emajõgi (dt. Embach) im Südosten des Landes. Als Hansestadt spielte Tartu schon früh eine wirtschaftlich bedeutende Rolle im Osthandel als Bindeglied zwischen Reval, den Hansemitgliedern im Westen und dem großen russischen Markt.

Ein Kapitel baltischer Geschichte

Bereits im Jahr 1030 wurde erstmals die estnische Ansiedlung Tarbatas urkundlich erwähnt, als Großfürst Jaroslaw von Kiew die dortige Holzfestung zerstörte. Auf den Trümmern ließ er eine steinerne Festung errichten, die er nach seinem Taufnamen Juri nun Jurjev nannte.

Ab dem Jahr 1202 annektierte der Schwertbrüderorden, der 1237 im Livländischen Orden aufging, die Region des heutigen Estlands und eroberte die Burg 1215. Tharbatum wurde nun auf Deutsch Dorpat benannt, im Jahr 1224 wurde das Bistum Dorpat gegründet, welches bis 1558 Bestand hatte. Die Stadt blühte auf und wurde schon 1280 Mitglied der Hanse. Damit hatte Dorpat Anschluss an einträgliche Handelsverbindungen und wurde zur Drehscheibe im Osthandel mit Russland, insbesondere mit den Handelszentren Pskow (dt. Pleskau) und Nowgorod.

Mit dem Livländischen Krieg (1558-1583) wurde Tartu zunächst russisch, gegen Kriegsende allerdings vom litauisch-polnischen Reich in Besitz genommen. Es folgte ein bis in die Neuzeit dauernder häufiger Wechsel der Herrschaft über Estland und damit auch der Herren Tartus. Im Jahr 1625 kam für Estland und damit auch für Dorpat mit den schwedischen Besatzungstruppen eine neue Macht ins Spiel. Für die Stadt wurde die Zugehörigkeit zu Schweden – auch durch die Gründung der Akademie, der heutigen Universität – zum Beginn einer Blütezeit.

Doch die Blüte dauerte nicht lange. Der Große Nordische Krieg (1700-1721) traf auch Dorpat, das 1721 nach der Einnahme ganz Estlands durch das Zarenreich besetzt wurde. Tartu, wie die Stadt nun wieder genannt wurde, blieb bis zum Ende des Zarenreichs und der folgenden ersten estnischen Unabhängigkeitserklärung von 1918 russisch und gehörte zum Gouvernement Livland. Bald darauf traf Tartu eine Katastrophe: Der Stadtbrand von 1775 zerstörte fast die gesamte Innenstadt. Daher stammen heute die ältesten Gebäude mit wenigen Ausnahmen aus dem 18. und 19. Jahrhundert.

Im Jahr 1893 – auf dem Höhepunkt der Russifizierungskampagne – wurde versucht die Stadt offiziell in Jurjev umzubenennen und zeitweise war es verboten, den estnischen Namen Tartu oder gar den deutschen Namen Dorpat öffentlich zu benutzen. Beide Namen stammen aus der ersten, noch altestnischen Ortsbezeichnung Tarbata, was Auerochse bedeutet. Mit der ersten Unabhängigkeit Estlands 1918 wurde die Stadt offiziell Tartu genannt.

Estland und damit auch Tartu wurden 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt wie das gesamte Baltikum der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen. Daraufhin folgten fast alle 16.000 Deutsch-Balten dem nationalsozialistischen Aufruf „Heim ins Reich“ und wanderten ins Reichsgebiet ab bzw. wurden im Warthegau neu angesiedelt. Tartu verlor somit einen beträchtlichen Teil seiner Bevölkerung. Kurz nach Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion wurde Estland vom Deutschen Reich besetzt. Als 1944 die Rote Armee Estland erreichte, wurde das baltische Land in die Sowjetunion eingegliedert, es folgten Jahrzehnte der Russifizierung und gezielten Ansiedlung von Russen in Estland. Tartu als bedeutendster Stützpunkt der sowjetischen Luftstreitkräfte im Baltikum galt als gesperrte Stadt. Nach der politischen Wende 1989 war der Zusammenbruch des Ostblocks abzusehen und im Jahr darauf war es endlich soweit: Am 30. März 1990 erklärte Estland seine Unabhängigkeit und auch Tartu war endlich frei.

Tartu die Stadt der Studenten

Das heutige Tartu ist eine junge Stadt, fast jeder fünfte Einwohner ist Studierender, kein Wunder also, dass Studenten das Stadtbild prägen und Tartu als geistiges und kreatives Zentrum Estlands gilt.

Der schwedische König Gustav Adolf II. setzte gleich zum Beginn der schwedischen Besetzung auf Bildung und ließ im Jahr 1632 die Akademie gründen, die heutige Universität. Diese Hochschulgründung ließ das Geistesleben in Tartu aufblühen, die Akademie ist die älteste schwedische Hochschule, die sich nicht im schwedischen Mutterland befindet.

Keine andere Universität hatte einen solch großen Einfluss auf die Entwicklung der Hochschulstadt, wie die Universität von Tartu. Sie war auch von großer Wichtigkeit für die Bedeutung des baltendeutschen Adels, denn die Universität Tartu war die einzige deutschsprachige Hochschule im ganzen russischen Zarenreich. Bis heute ist sie die einzige Volluniversität Estlands.

Die Universität Tartu war auch federführend bei der Ausprägung einer eigenen kulturellen und politischen Identität der Esten und dem beginnenden nationalen Erwachen im Land. Anfang der 1870er Jahre begannen die jungen studierenden Esten sich in eigenen Vereinen und Kulturgruppen zu organisieren, die estnische Sprache zu pflegen und sich allen russischen Assimilierungsversuchen zu widersetzen. Auch die Russifizierungskampagne zwischen 1886-1889 im Zuge derer die deutsche Lehrsprache vom Russischen abgelöst wurde, konnte das estnische Erwachen nicht stoppen. Da aber 90% der baltendeutschen Hochschullehrer nach Deutschland abwanderten, erlitt die Universität einen herben Verlust. Mit der Unabhängigkeit wurde die Hochschule zur Nationaluniversität und behielt ihre Bedeutung auch in der Zeit der Sowjetunion bei.

Berühmte Persönlichkeiten aus dem Leben von Tartu

Bei der Bedeutung der Universität von Tartu ist es kein Wunder, dass Tartus berühmteste Bürger allesamt Wissenschaftler sind.

Karl Ernst von Bear (1792-1876) war Sohn einer deutschbaltischen Adelsfamilie und absolvierte an der Universität Dorpat ein Medizinstudium. Er vervollkommnete seine Studien in Würzburg und Wien, wo ihm klar wurde, dass er in der wissenschaftlichen Forschung seine Berufung finden würde. Seine erste Stelle fand er in Königsberg, wo er bis 1834 seine produktivste Zeit erlebte und habilitierte. Dort begann er seine Forschungen zur Embryologie und wurde 1827 als Entdecker der Eizelle berühmt. 1834 wechselte er an die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften, wo er bis 1846 als Zoologe, dann bis 1862 als Anatom und Physiologe arbeitete und zur „Seele der Akademie“ wurde. Im Jahr 1862 wurde er Berater des Ministeriums für Erziehung. Von Bear unternahm zahlreiche Forschungsreisen ins arktische Eismeer und ins Nordmeer. Auch wurde er als auswärtiges Mitglied in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt. Immer wichtig war ihm die Förderung des akademischen Nachwuchses, so war er auch Mentor von Nikolai Iwanowitsch Pirogow (1810-1881).

Der hochbegabte russische Offizierssohn schloss sein Medizinstudium an der Universität Moskau bereits im Alter von 17 Jahren ab. Bald darauf ging er zur Weiterbildung nach Dorpat, und spezialisierte sich dort auf die Chirurgie und Anatomie. Nach der Promotion 1832 hielt er sich zur Weiterbildung in Berlin und Göttingen auf. Mit nur 26 Jahren wurde er zum Professor für Chirurgie und pathologische Anatomie an die Universität Dorpat gerufen, wo er bis 1840 blieb und im Anschluss daran als Professor für Chirurgie an die Akademie für Militärmedizin nach St. Petersburg wechselte. Dort gelang ihm 1847 die erste Ether-Narkose, 1852 die erfolgreiche Operation eines Aneurysmas am Aortenbogen. Ab 1854 wurde er als Militärarzt im Krimkrieg zum Begründer der Feldchirurgie. Seinen Ruhestand verbrachte er daher in der Süd-Ukraine auf seinem Gut.

Der in Dorpat geborene Deutschbalte Karl Ernst Claus (1796-1864) studierte Pharmazie und Chemie und war von 1826-1831 als Apotheker in Kasan tätig. Er promovierte in Chemie über die Grundlagen der analytischen Pflanzenchemie. In Kasan wurde er nach seiner Habilitation 1839 zum Professor für Chemie berufen. Seit 1840 forschte Claus hauptsächlich über die Chemie der Platinmetalle. Im Jahr 1844 entdeckte er das leichteste Platinmetall, das er Ruthenium nannte. Als ihn 1852 der Ruf für eine Professur in Dorpat erreicht, kehrte er in seine Heimatstadt zurück, in der er 1864 starb.

Zu Besuch in Tartu

Estland ist also mehr als nur Tallinn, auch die zweitgrößte Stadt Tartu ist eine sehenswerte Perle und natürlich einer der Höhepunkte der Reise „Estland zum Kennenlernen“.

Tartu ist nicht nur eine junge, von studentischem Leben mitgeprägte Stadt, in der Fahrräder ein bevorzugtes Verkehrsmittel sind. Selbst die Altstadt erscheint mit ihren diversen Parkanlagen sehr grün. Dazu ist Tartu sehr kompakt und gut zu Fuß erkundbar. Die Einkaufsmeilen sind im Zentrum zu finden und auch das Nachtleben und die Gastronomie sind in der Altstadt konzentriert. Baulich geprägt ist Tartus historisches Zentrum vom Klassizismus, doch finden sich auch viele mittelalterliche Bauten und Spuren der Hansezeit.
Mittelpunkt der Altstadt ist der Große Markt mit seinen vielen Cafés, Restaurants, Läden und dem imposanten Rathaus, das eines der schönsten und bedeutendsten frühklassizistischen Bauwerke in Estland ist. Der 1789 fertiggestellte Bau wurde vom damaligen Stadtbaumeister Johann Heinrich Bartholomäus Walter entworfen und ersetze den abgebrannten Vorgängerbau. Vor dem Rathaus befinden sich die „Küssenden Studenten“, ein 1998 errichteter Brunnen mit einer Skulptur, der eines der beliebtesten Fotomotive der Stadt ist.
Hinter dem Rathaus liegt der Pigorow-Park, eine herrliche grüne Oase und angesagter Studententreff. Direkt am Fluss Emajõgi findet man den Botanischen Garten, nordwestlich schließt sich die pittoreske Holzhäuservorstadt Supilinn (dt. Suppenstadt) an.
Nur wenige Gehminuten vom Rathaus entfernt befindet sich das Hauptgebäude der Universität aus dem frühen 19. Jahrhundert mit der imposanten Säulenfront ein klassizistisches Kleinod ist. Aula und Kunstmuseum können besichtigt werden.

Westlich der Altstadt beginnt der Domberg-Park, der sich über einen Hügel (Toomemägi) hinweg erstreckt. Der einstmals militärisch genutzte Hügel ist heute eine weitere grüne Oase im Zentrum Tartus. Viele ehemalige Militärbauten werden heute zivil als Museen genutzt. Oben auf dem Domberg steht die Ruine des im 13. Jahrhundert erbauten mittelalterlichen Doms. Der ausgebaute Chor des Doms beherbergt heute das Universitätsmuseum.
Die im II. Weltkrieg fast völlig zerstörte, weithin sichtbare Johanniskirche erstrahlt wieder im alten Glanz. Sie markiert den nordöstlichen Endpunkt der „Route der Backsteinkirchen“ und ist eines der bedeutendsten Sakralbauten der Backsteingotik im Norden Europas. Kunstgeschichtlich europaweit gar einmalig sind die über tausend erhaltenen Terrakottaskulpturen im Innenraum und an den Außenwänden. Die ältesten dieser Figuren dürften rund 700 Jahre alt sein. Sie sind so wertvoll, dass die Originale sich heute im Museum befinden, an und in den Kirchenwänden sind detailgetreue Kopien zu bewundern.

Die Stadt Tartu wird 2024 eine der Kulturhauptstädte Europas sein.