Die Memel – Fluss der vielen Namen

Die Memel entspringt nahe der weißrussischen Hauptstadt Minsk und mündet nach 937 km in Litauen in das zur Ostsee gehörende Kurische Haff. Von der Quelle bei Minsk aus fließt sie Richtung Westen, bis sie bei Grodno (Hrodna) scharf nach Norden abbiegt. Von Kaunas an fließt sie bis zur Mündung wieder nach Westen.

Die Memel ist ein Fluss, der viele Namen hat. Im Litauischen heißt sie Nemunas, im Weißrussischen Njoman, im Russischen Neman, im Polnischen Niemen. Unter all diesen Namen spielte diese Flusslandschaft ihre Rolle in der Geschichte der an ihr lebenden Weißrussen, Litauern, Polen, Juden und Deutschen, all den Kulturen, die sich gegenseitig beeinflussten. Und sie alle profitierten vom Fluss, er ernährte sie, machte einige sogar reich, denn er war schon in der Antike Teil der Bernsteinstraße, einer der wichtigsten Handelsmagistralen zwischen Ostsee, Mittelmeer und Schwarzem Meer. So war und ist die Memel ein europäischer Fluss, der aber als solcher fast in Vergessenheit geraten ist.

Von der Quelle nach Grodno (Hrodna)

Eine wirkliche Quelle hat die Memel nicht. In einem Sumpfgebiet nur 40 Kilometer südwestlich der weißrussischen Hauptstadt Minsk vereinen sich die drei Quellflüsse Loscha  Uscha und Njemenec zur Memel. Still fließt der nur langsam wachsende Fluss durch Weißrussland Richtung Westen. Er durchquert dünn besiedelte Landschaften. Wälder, Moorregionen und ein paar kleine Hügel lassen die Memel sich sanft mäandernd fortbewegen. Bei Grodno (Hrodna) ist sie immerhin rund hundert Meter breit und einige Meter tief.

Bis heute ist Hrodna im Westen immer noch eher unter seinem polnischen und russischen Namen Grodno bekannt. Seit dem Ende der Sowjetunion gehört Grodno seit 1991 zu Weißrussland. Hier finden sich Spuren deutscher, polnischer und weißrussischer Geschichte. Als Festung war Grodno schon im 1. Weltkrieg nach der Befreiung Ostpreußens zwischen dem Kaierreich und dem Zarenreich heiß umkämpft. Bis 1939 gehörte Grodno zu Polen und hatte einen hohen polnischen und jüdischen Bevölkerungsanteil. Noch heute gibt es in Grodno eine polnische Minderheit. Polens berühmtester Dichter war Adam Mickiewicz (1798-1855), stammte aus dieser Region und wurde in Zaosie östlich von Grodno geboren.

Von Grodno über Kaunas nach Schmalleningken

Der Fluss nähert sich bei Hrodna bis auf wenige Kilometer dem heutigen Staatsgebiet Polens und bildet dann auf einer kurzen Strecke nordwärts fließend die Grenze zwischen Weißrussland und Litauen. Hinter Grodno erreicht sie Litauen und heißt nun Nemunas. Die Litauer betrachten den Nemunas als Vater der „litauischen Flüsse“, da der überwiegende Teil des Landes über das Memel-Becken entwässert wird.

Kurz hinter der litauischen Grenze fließt der Nemunas am alten Kurort Druskinikai vorbei, der schon im Zarenreich ob seiner Mineralquellen ein beliebtes Kurbad war, das auch wegen der schönen Lage zwischen vielen Wäldern und Seen geschätzt wird. Bei Druskinikai beginnt einer der schönsten Memelabschnitte, die Memelschleifen. Der Fluss verengt sich auf etwa 60m Breite, malerische bewaldete Ufer im Wechsel mit Wiesenlandschaften und Steilufern begleiten den hier stark mäandernden Fluss auf seinem Weg nach Norden.

Kurz vor Kaunas ist die Memel seit 1959 zum Kaunasser Meer (Kaunas marios) aufgestaut. Der Staudamm bringt es als Sperre mit sich, dass die Memel erst ab Kaunas bis zur Mündung schiffbar ist. In dem Stausee mit seinen 63 km² Fläche versanken 45 Dörfer. Jenseits der Staumauer liegt Kaunas, die 1408 gegründete spätere Hansestadt. Mit ca. 300.000 Einwohnern ist Kaunas die zweitgrößte Stadt Litauens. Reich an Sehenswürdigkeiten ist die Stadt am Nemunas und bei allen Litauenreisen wie „Litauen zum Kennenlernen“ fester Bestandteil des Programms. Direkt am Altstadtrand findet sich der Neris, der als größter Nebenfluss der Memel Kaunas und die Hauptstadt Vilnius verbindet. Bei Kaunas ist der Memel-Strom nun rund 200 m breit und fließt sanft und still dahin. Doch hat er durch die vielen Sandbänken durchaus seine Tücken.

Von der einstigen deutschen Grenze zur Mündung

Hinter Jurbakas beginnt bei Schmalleningken (Smalininkai) der einst zu Ostpreußen gehörende letzte Flussabschnitt der Memel. Heute ist der Strom ab hier Grenzfluss zwischen Litauen im Norden und dem russischen Kaliningrader Gebiet im Süden. Schon seit dem Frieden von Melnosee von 1422 lag in dieser Region eine über 400 Jahre stabile Ostgrenze. Zu einer genau festgelegten Grenze wurde die Memel nach dem Friedensvertrag von 1920, als das bis dahin zum Deutschen Reich gehörende Memelland abgetrennt und 1923 von Litauen annektiert wurde.

Dass hier einmal Preußen war, ist bis heute zu erkennen. Es ist die Bauweise der typisch preußischen Bahnhöfe, Postämter und Schulen und der rote Backstein als Baumaterial. Hier mal ein altes Bauernhaus, dort einmal eine schon etwas windschiefe Fischerkate. Selbst das im Krieg stark zerstörte Tilsit (Sovetsk) zeigt noch deutsche Spuren, besonders die Luisenbrücke über die Memel, die heute als Grenzübergang genutzt wird. Der Name der Brücke erinnert an die preußische Königin Luise, die Gemahlin von König Friedrich Wilhelm III. und ihre Rolle beim Treffen der Preußen mit Zar Alexander I. von Russland und Napoleon auf einem Floß mitten auf der Memel im Jahr 1807.

Bei Tilsit geht der Memelfluss in ein Mündungsdelta über, dort geht nach Südwesten hin die Gilge (Matrossowka) ab, die durch die Elchniederung zum Haff fließt. Der Hauptstrom führt noch weiter bis nach Rusne und teilt sich dann im eigentlichen 45 km² großen Memeldelta weiter auf. Hauptstrom und ausgewiesene Wasserstraße ist der nördlichste Flussarm, die Atmath (Atmata), die Grenze verläuft am südlichsten Abfluss Skirwith (Skirvyte). Alle diese Arme münden ins Kurische Haff, das zur Ostsee gehört. Die Gilge bietet Zugang zum Seckenburger Kanal und dem parallel zum Haff verlaufenen Großen Friedrichsgraben bis zur Deime, die wiederum eine Verbindung zum Pregel und nach Königsberg bietet.

Den Fluss, seine Besonderheiten und das Leben in der abgeschiedenen Welt nördlich und südlich der Memel beschrieben mehrere auch weit über die Region hinaus bekannte Schriftsteller. Der Insterburger Jurist und Schriftsteller Ernst Wichert (1831-1902) gehört mit seinem Band „Litauische Geschichten“ sowie zahlreichen Dramen und Romanen dazu. Zu seiner Zeit sehr bekannt war der aus der Nähe von Heydekrug (Silute) stammende Schriftsteller Hermann Sudermann (1857-1928), er verfasste ebenfalls einen Erzählband mit dem Titel „Litauische Geschichten“ und zahlreiche Dramen sowie Romane wie „Frau Sorge“ und „Heimat“. In Tilsit gebürtig war Johannes Bobrowski (1917-1965), der seine Heimat in „Litauische Klaviere“ ein literarisches Denkmal setzte.

Schaktarp – Die fünfte Jahreszeit an der Memel

Sie scheint so friedlich, ja gelassen dahin zu fließen die Memel. Dennoch kann sie im Winter zerstörerische Gewalten entwickeln. Im Dezember wurde es so richtig Winter in Ostpreußen mit starken Frösten, sodass die Memel zufror. Der Frost blieb meist stabil bis mindestens Ende Januar oder Mitte Februar und ließ die Eisdecke auf eine Dicke von 50 cm bis zu einem Meter anwachsen. Meist erst Anfang März brach sie wieder auf. Wegen der vielen Biegungen und des ungleichmäßigen Gefälles bildet sich fast in jedem Jahr ein heftiger Eisstau, der Brücken gefährdet und große Überschwemmungen mit sich bringt, die zuweilen die halbe Elchniederung unzugänglich machen. Taut das Haff noch nicht, kann dieser Zustand der Überschwemmungen, der absoluten Grundlosigkeit der ganzen Region, der ganze Dörfer und die vielen Einzelhöfe von der Außenwelt abschnitt bis zu 50 Tage dauern. Wegen der vielen sich auftürmenden Eisschollen war nicht einmal der Verkehr mit dem Boot möglich. Diese Zeit nannten Ostpreußen aus dieser Region Schaktarp, dann trugen die Wege über das Eis nicht mehr und der Verkehr übers Wasser war noch nicht möglich. Der fünften Jahreszeit Schaktarp hat Ernst Wichert in einer seiner Erzählung „Der Schaktarp“ berichtet, die Teil seines Bands „Litauische Geschichten“ ist.

Schifffahrt auf der Memel

Die Zeiten als wichtiger schiffbarer Strom sind für die Memel Geschichte, obwohl sie bis Kaunas schiffbar wäre. Güterverkehr auf Schiffen jedenfalls findet auf ihr so gut wie gar nicht mehr statt. Unternahm man es zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert noch Untiefen und Felsen zu beseitigen, geschieht diesbezüglich heute nicht mehr viel. Dabei war die Memel über Jahrhunderte ein wichtiger Schifffahrtsweg und wurde schon im 18. Jahrhundert durch den Oginski-Kanal mit dem Djepr verbunden, 1839 mit dem Augustow-Kanal, der wiederum mit Biebrza und Weichsel verband. Ebenfalls im 18. Jahrhundert wurde sie über den Großen-Friedrichsgraben und den König-Wilhelm-Kanal mit Königsberg und dem Frischen Haff vernetzt. Landwirtschaftliche Erzeugnisse wurden transportiert, Fischfang betrieben und - ebenfalls von allen Schriftstellern der Region besungen - die Flößerei. In großen Flößen wurde in Weißrussland geschlagenes Holz zur Memelmündung geflößt, dort weiterverarbeitet oder per Schiff über die Ostsee und bis nach England transportiert. Diese Holzflößerei kam mit dem Versailler Vertrag zum Erliegen, der Güterverkehr begann schon bald nach dem Bau der Eisenbahnlinien zu bröckeln.

Heute kommen die Touristen wieder, gern auch auf dem Schiff, oder sie machen Ausflugsfahrten auf dem großen Strom im Osten.