Die Grenzinsel Piirissaar

Sei es nun eine Individualreise oder eine Gruppenreise, die den Baltikumurlauber nach Estland führt, so gut wie immer gehört ein Besuch in Estlands Kulturmetropole Tartu dazu. Das gilt auch für die Individualreise ”Estland zum Kennenlernen”. Wer von Tartu aus einen Tagesausflug der etwas anderen Art unternehmen möchte, dem sei eine Schiffstour zur Insel Piirissaar (Porka) im Peipussee empfohlen, dem fünftgrößten See Europas. Zwei Touren sind möglich, einmal eine mehrstündige Fahrt auf dem Fluß Emajõgi von Tartu aus oder die wesentlich kürzere Fährfahrt mit dem Linienschiff von Laaksaare aus, die mehrmals täglich stattfindet. Der Emajõgi ist Estlands einziger Fluss, der auf ganzer Länge befahrbar ist und fließt bei Praaga in den Peipussee.

Obwohl nur 7,5 km² groß, ist Piirissaar die größte und einzige estnische Insel im Peipussee. Seit dem Ende der Sowjetunion und der Selbstständigkeit Estlands ist das Eiland heute eine Grenzinsel, direkt östlich verläuft die Grenze zu Russland durch den See, die heute zugleich EU-Außengrenze ist.

Die Insel liegt rund 15 km östlich der Emajõgi-Mündung am Nordende der auch Lämmijärv genannten Seeenge zwischen dem großen Nordteil des Sees Peipsi järv und dem Pikhva järv im Süden. Dank der im Verhältnis zur Größe geringen Tiefe von nur 8-15 Metern wird der Peipussee im Sommer 22 Grad warm, eignet sich zum Baden und ist sehr fischreich.

Piirissaar – Natur und Geschichte einer geteilten Insel

Der Emajõgi der bei Praaga in den See mündet, floss nach der Eiszeit zunächst in umgekehrter Richtung, nämlich vom Peipussee in Richtung Võrtsjärv. Die heutige Fließrichtung entwickelte sich vor 6.000 bis 7.000 Jahren. Bis vor noch gar nicht allzu langer Zeit war die Insel wesentlich größer als heute. Dokumente belegen, dass sie noch im Jahr 1796 eine Fläche von 20,1 km² umfasste. Heute befinden sich auf der Insel die drei Dörfer Piiri, Saare und Tooni, die alle im Nordosten der Insel liegen, wo die Böden sandiger sind und  die Insel rund fünf Meter aus dem See ragt, während es im Westen moorigere Böden sind und die Insel nur 1-2 Meter aus dem Peipussee ragt. Das einstige Dorf Porka lag im Nordwesten der Insel und wurde 1862 mit dem größten Teil der Inselfläche bei einem Sturm fortgespült.

Dauerhaft besiedelt ist die Insel wohl erst seit der Zeit des Nordischen Kriegs. Auf der Flucht oder zur Emigration gezwungen und nach der Kirchenreform des Patriarchen Nikon im Jahr 1629 aus Russland vertrieben, ließen sich auf der Insel russische Altgläubige nieder und suchten dort Schutz vor Verfolgung und erzwungenem Kriegsdienst. Auch heute besteht die Mehrheit der Inselbewohner aus Altgläubigen. Allerdings ist die Einwohnerzahl auf der Insel stark geschrumpft, waren es 1920 noch etwas 700, sind es heute keine 100 mehr. Die Menschen auf Piirissaar leben bis heute überwiegend vom Fischfang und dem Zwiebelanbau.

Piirissaar besteht heute streng genommen aus zwei Inseln, die Insel ist nämlich in der Mitte fast schnurgerade in Nord-Südrichtung von einem Kanal in zwei Hälften getrennt. Mit dem Kanalbau begannen die Schweden im Großen Nordischen Krieg (1700-1721) um dort ihre Kriegsschiffe verstecken zu können. Nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands begann man 1920 den Kanal auszubauen, ihn bis nach Tooni fortzuführen und dort einen Hafen zu bauen. Auch während der Jahre der Zugehörigkeit Estlands zur Sowjetunion wurde der Kanalbau weiter fortgeführt. Er endete dann nicht wie geplant in Tooni, sondert teilte die Insel in einen Ost- und einen Westteil.  Das hatte Einfluss auf die Inselnatur, der Westteil ragt kaum noch über den Seespiegel hinaus und besteht zu großen Teilen aus moorigen Böden, Dörfer gibt es dort nicht mehr.

Bis heute ist ganz Piirissaar mit seinen zahlreichen Vogelarten sowie Amphibien ein Naturschutzgebiet. Auch zahlreiche seltene Pflanzen sind hier zu finden. Unter anderen gefährdeten Arten finden sich hier die Wechselkröte und die Knoblauchkröte in großer Zahl. Sie finden auf den Zwiebel- und Gemüsefeldern beste Bedingungen mit ausreichend Nahrung und Verstecken.

Wer mit der Fähre von Tartu nach Piirissaar übersetzt, erlebt weltvergessene Landschaften mit Ufern, die sich nicht für den Bau von Anlegestellen eigneten, weshalb bis heute zum Überqueren und für Transporte Flöße benutzt werden.

Eine kleine Insel und die große Geschichte

Einzug in die Geschichtsbücher fand der Peipussee und die Region durch eine der wichtigsten Schlachten des Mittelalters. Zu jener Zeit waren der Livländische Orden und die unter seinen Fahnen vereinten Heere des Deutschen Ordens und des Schwertbrüderordens zur Expansion nach Osten aufgebrochen, um die russischen Lande zu erobern. Die russischen Truppen des mittelalterlichen Großreichs der Kiewer Rus standen unter der Führung des Nowgoroder Fürsten Alexander Newski. Schon 1240 hatte Alexander Newski den Livländischen Orden vor Moskau geschlagen und zurückgedrängt. Nur zwei Jahre später unternahmen die Ordensheere einen weiteren Versuch die Kiewer Rus zu schlagen.  Im Jahr 1241 gelang es den Ordensheeren Pskow (dt. Pleskau) einzunehmen. Am 5. April 1242 kam es dann auf dem nur 30 cm starken Eis des zugefrorenen Peipussees zur großen Schlacht. Viele Ordensritter in ihren schweren Rüstungen brachen auf dem Eis ein und ertranken. Alexander Newski brachte den Ordensheeren so eine vernichtende Niederlage bei.

Diese Schlacht war einer der wichtigsten Waffengänge des Mittelalters, mit Folgen, die bis heute spürbar sind. Der russische Sieg besiegelte das Ende der Ostexpansion der Orden. Nie wieder wurde der Versuch gemacht, die Kiewer Rus zu schlagen. Der Peipussee und die Grenze zwischen Estland und Russland macht bis heute die Trennlinie zwischen West- und Osteuropa aus und auch zwischen den lateinisch geprägten Katholiken und Protestanten einerseits sowie den russisch-orthodoxen Christen, wozu auch die verschiedenen Schriften und Kalender gehören. Hier verläuft somit bis heute die kulturelle Grenze zu Osteuropa.