Die Deutsch-Balten – eine einflussreiche Minderheit in Estland und Lettland

Fährt man heute durch Lettland und Estland, findet man auf Schritt und Tritt deutsche Spuren wie Grabsteine, Epitaphe, Inschriften auf Herrenhäusern und so manchen öffentlichen Bauten, sowie immer wieder deutsche Namen. Diese Spuren sind so zahlreich, dass sie auf intensive deutsch-lettische und deutsch-estnische Zusammenhänge in der Geschichte schließen lassen.

Diese Spuren stammen von den Deutsch-Balten, die auch Baltendeutsche genannt werden. Die eingewanderte deutschsprachige Minderheit stellte einst die Oberschicht im heutigen Estland und Lettland. Die überaus einflussreiche Minderheit dominierte über Jahrhunderte im Gebiet des nördlichen Baltikums alle Lebensbereiche von Kultur und Sprache bis hin zur Politik. Doch wie kam das?

Von der Einwanderung zur führenden Oberschicht

Die Geschichte der Deutschen im Baltikum begann mit der deutschen Ostsiedlung (Aufseglung) gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Damals kamen die Schwertbrüder ins Baltikum, um die Heiden zu christianisieren. Sie eroberten das ganze Livland, Kurland und Estland, also im Wesentlichen die Gebiete des heutigen Lettlands und Estlands. Ihnen folgten Siedler aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Westfalen.

Anders als bei der Besiedlung des späteren Ostpreußens im Deutschordensstaat kamen aber so gut wie keine bäuerlichen Siedler ins Baltikum. Die deutschen Siedler hier waren meist Handel treibende Stadtbürger, adlige Großgrundbesitzer auf dem Land und sowohl adlige als auch bürgerliche Angehörige der kirchlichen Oberschicht. Zahlenmäßig stieg dieser Bevölkerungsanteil in keiner Region auf über zehn Prozent an, was aber den Landbesitz betraf, waren bis zu 80% des Bodens in der Hand von Deutschbalten. Letten und Esten waren zunächst überwiegend Leibeigene, später abhängige Bauern oder Pächter.

Innerhalb der meisten größeren Städte wie Riga, Tallinn oder Dorpat waren die Deutschbalten nicht nur kulturell führend, sondern stellten oft bis Ende des 19. Jahrhunderts die größte Bevölkerungsgruppe mit Bevölkerungsanteilen von über 40%. Insgesamt gesehen stieg der Bevölkerungsanteil der Baltendeutschen aber zu keiner Zeit über zehn Prozent. Dennoch prägten die Deutschbalten das gesellschaftliche Leben sowohl auf dem Land als auch in den Städten bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Litauen wurde von der deutschen Ansiedlung kaum betroffen, denn es gelang den Ordensrittern nicht, das Großfürstentum zu erobern. Die Schwertbrüder erlitten eine verheerende Niederlage in der Schlacht von Schaulen 1236. Danach vereinigte sich der Schwertbrüderorden mit dem Deutschen Orden. Litauen verband sich 1385 durch Eheschließung mit Polen zu einer Personalunion. Der polnische König war auch Großherzog von Litauen. Im Jahr der Lubliner Union von 1569 wurde die Personalunion zur Realunion und führte zur Königlichen Republik Polen-Litauen in Form einer Wahlmonarchie. Zu Zeiten der größten Ausdehnung gehörte fast das ganze Baltikum zu Polen-Litauen, was aber zu keinen wesentlichen Siedlungsbewegungen Richtung Estland und Lettland führte. Dort blieben die Baltendeutschen die Führungsschicht. Litauen wurde zwar stark polonisiert, der litauische Adel allerdings behielt seine Privilegien und blieb Führungsschicht im Land.

Die Deutsch-Balten nach der Reformation

Wiederum anders als die Litauer, die Katholiken blieben, wurden die Deutschbalten und mit ihnen die Letten und Esten nach der Reformation evangelisch-lutherische Protestanten. Der Sieg der Reformation ging einher mit der Umwandlung des Deutschordensstaates in ein weltliches Herzogtum Preußen. Der Ordensstaat zerfiel auch im Baltikum, auch die Gebiete des heutigen Lettlands und Estlands fielen bis zu den Polnischen Teilungen von 1772-1795 an Polen-Litauen. Am Einfluss der Deutschbalten änderte das jedoch nichts, sie konnten ihre Privilegien immer halten. Der Große Nordische Krieg führte dazu, dass ein großer Teil Livlands unter russische Herrschaft geriet, der Rest von Polnisch-Livland wurde 1772 bei der Ersten Polnischen Teilung einer russischer Herrschaft unterstellt. An den Privilegien der deutschbaltischen Oberschicht änderte das wiederum nichts, doch setzte eine Russifizierung durch verstärkte Ansiedlung von Russen ein, denn auch privilegierte Schichten des Zarenreichs schätzten die westliche Atmosphäre und den Wohlstand in der Region.

Zum Ende des 19. Jahrhunderts jedoch begannen sich Veränderungen anzukündigen. Die Russifizierung nahm noch einmal deutlich zu. Zudem kam nun die Zeit des Erwachens eines estnischen und lettischen Nationalbewusstseins, das sich auch gegen die Dominanz der deutschbaltischen Oberschicht richtete. Andererseits schlugen in ganz Europa die nationalistischen Wellen um die Jahrhundertwende immer höher – Russland und das Deutsche Reich gerieten mehr und mehr in Gegensatz. So wurde nun auch in den baltischen Ostseeprovinzen des Zarenreichs Russisch als Amtssprache eingeführt, auch in der Universität Dorpat. Es kam zu einer ersten Auswanderungswelle nach Deutschland, denn immer mehr wurden die Deutschbalten nun in die Rolle einer Minderheit zurückgedrängt.

Die Deutsch-Balten im 20. Jahrhundert

Mit der Besetzung des Baltikums zwischen 1916 und 1918 kamen auf deutscher Seite große Pläne für eine neue deutsche Großansiedlung nach einem Anschluss an das Reich auf. Das Ende des Ersten Weltkrieges änderte für die Deutschbalten vieles, die Privilegien lösten sich in Luft auf. Es kam zu Unruhen und Kämpfen, an denen sich auch deutsche Freikorps und die baltendeutsche Baltische Landwehr beteiligten, die nicht nur gegen die Sowjetunion, sondern auch gegen die eben unabhängigen baltischen Staaten kämpften. Dem folgte – sobald Estland und Lettland unabhängig wurden – die Enteignung des baltendeutschen Landadels im Rahmen der Bodenreform, die den lettischen und estnischen landlosen Bauern zugutekam. Eine weitere Auswanderungswelle reduzierte den Bevölkerungsanteil der Baltendeutschen in Estland auf 1,6% und in Lettland auf 3,3%, obwohl Estland und Lettland den Baltendeutschen einen Minderheitenstatus mit weitgehender Autonomie einräumten.

Die Geschichte der jahrhundertelangen baltendeutschen Siedlung in Lettland und Estland endete 1939, als der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag sowie der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt in Kraft traten. Diese Verträge sahen eine Umsiedlung der „rassisch wertvollen und arischen“ Deutschbalten vor. Doch führte die Umsiedlung der Baltendeutschen nicht ins Gebiet des Altreichs, sondern in die nach dem Polenfeldzug besetzten Gebiete der neu geschaffenen Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Warthegau. Dort wurden oft nur Stunden vor der Ankunft der „volksdeutschen“ Neusiedler die polnischen Wohnungs-, Haus- und Landwirtschaftseigentümer vertrieben. Bis zum 30. Oktober 1939 sollten die Umsiedler Lettland und Estland verlassen haben, die Deutschbalten wurden aus ihrer estnischen oder lettischen Staatsbürgerschaft entlassen. Die meisten Baltendeutschen folgten dem Ruf des Nazireichs freiwillig, denn wer seine baltische Heimat nicht verlassen wollte, verlor die deutsche Volkszugehörigkeit. Letztlich hatten die Baltendeutschen nur die Wahl zwischen Teufel Hitler und Beelzebub Stalin. Die im Baltikum verbliebenen Baltendeutschen profitierten nur kurzzeitig von der deutschen Besetzung und flohen 1944 mit der zurückflutenden Wehrmacht nach Westen. Die vor allem im Warthegau angesiedelten Baltendeutschen teilten das Schicksal ihrer einstigen Landsleute und flohen gleichfalls nach Westen.

Die Deutsch-Balten heute

Nach 700 Jahren deutschbaltischer Ansiedlungen in Estland und Lettland gibt es im heutigen Baltikum kaum noch Deutsch-Balten. Zwar leben nach letzen Volkszählungen in Estland rund 1.900 und in Lettland etwa 3.300 Deutsche, doch dürften die allerwenigsten von ihnen aus deutschbaltischen Familien stammen, vielfach sind es Neuzuwanderer. In Litauen gibt es um die 5.000 Deutsche, die aber entweder Neuzuwanderer sind oder in weitaus größerer Zahl aus Familien deutscher Memelländer stammen. Die meisten Nachkommen deutschbaltischer Familien leben heute in Deutschland.

Noch findet man Namen historischer Personen der einstigen deutsch-baltischen Oberschicht. Krusenstern ist einer davon und ist als Schiffsname am Bug eines der schönsten Windjammer der Welt angebracht, der die Norddeutschen immer wieder begeistert. Adam Johann von Krusenstern war ein deutschbaltischer Admiral in russischen Diensten. Der Marineoffizier war Expeditionsreisender und umsegelte als erster Bürger des Zarenreichs die Welt. Sein Grab und Grabepitaph befindet sich als eines von 107 Grabmalen baltendeutscher Familien in der Tallinner Domkirche. Oder Paul Edler von Rennenkampf, dessen Name bei den Veranstaltungen und Dokumentationen zum Thema „Hundert Jahre Beginn des 1.Weltkriegs“ häufig genannt wurde: Der General in russischen Diensten kommandierte im Ersten Weltkrieg die Njemen-Armee, die im August 1914 in Ostpreußen einmarschierte. Rennenkampf war ein loyaler Diener des Zaren.

Auch in unser aller Gegenwart begegnen uns baltendeutsche Namen gar nicht so selten.  Eckart von Hirschhausen, der bekannte Arzt, Journalist, Talk-Moderator und Kabarettist, Spross einer baltendeutschen Familie ist durch das Fernsehen bekannt. Auch die weitverzweigte Familie von Ungern-Sternberg hat mit Christina von Ungern-Sternberg, der Ehefrau des Journalisten Christoph von Ungern-Sternberg ein angeheiratetes Familienmitglied, das im ZDF-Fernsehen als Fernsehmoderatorin und Nachrichtenjournalistin bekannt wurde.