Altgläubigendörfer in Estland

In Russland kam es im 17. Jahrhundert zu Reformationsbestrebungen in der Russisch-Orthodoxen Kirche und in deren Folge zu Verfolgungen und Flucht von Gruppierungen, die am alten Glauben festhielten. Erste Anlaufstellen und neue Heimaten waren oft die westlichen Regionen des damals zaristischen Baltikums und Ostpreußen, wo man mehr Sicherheit suchte. Auch in Estland siedelten sich Altgläubige an.

Entstehung der Altgläubigen und Siedlungsgeschichte in Estland

Alles begann 1652, als der Patriarch Nikon begann, die Russisch-Orthodoxe Kirche zu reformieren, wobei es mehr um Formen als um grundlegende Glaubensinhalte ging, nämlich um Riten und Texte der Gottesdienste. Es handelte sich unter anderem darum, ob das Kreuz mit zwei gestreckten Fingern wie bisher oder nun mit drei gestreckten Fingern zu schlagen ist oder ob das Halleluja nun dreimal statt bisher zweimal gesungen wird. Ein Teil der Gläubigen jedoch wehrte sich und meinte, Glaubensinhalte seien sehr wohl an bestehende Formen gebunden. So entstanden zahlreiche neue Glaubensgemeinschaften, die den alten Ritus beibehielten. Dabei entstanden sowohl priesterlich-bischöflich organisierte Gemeinden, als auch priesterlose Gruppierungen. Letztere lehnten sowohl das Priestertum als auch die Sakramente ab sowie weitere Grundpositionen der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Nach dem Konzil 1666-1667 der Russisch-Orthodoxen Kirche setzten mit dem Kirchenbann die Verfolgungen aller Altgläubigen ein, zehntausende Anhänger des alten Kirchenritus wurden getötet. So flohen viele Altgläubige in die Westregionen des Zarenreiches, auch nach Estland.

Mitte des 18. Jahrhunderts ebbte die Hetze auf die Altgläubigen ab, doch blieben Ausgrenzungen, Diskriminierungen und Einschränkungen der Bürgerrechte. Erst als 1905 im ganzen Zarenreich die Religionsfreiheit gesetzlich verankert wurde, besserte sich die Lage der Altgläubigen nachhaltig.

Seit der ersten Unabhängigkeit Estlands 1918 waren für die Altgläubigen die Zeiten der Diskriminierung vorbei. Schon zu Beginn der 1900er Jahre bauten Altgläubige in Mustvee das größte altorthodoxe Bethaus Estlands. Während der sowjetischen Zeit war es vorbei mit der neuen religiösen Freiheit, alle Glaubensgemeinschaften standen unter Dauerdruck des staatlich verordneten Atheismus. Die endgültige Freiheit und die Gleichberechtigung zogen erst mit der estnischen Unabhängigkeit 1991 ein.

Von den geschätzt weltweit 2-3 Millionen Altgläubigen leben etwa 15.000 in Estland. Neben jeweils einer Gemeinde in Tartu und Tallinn finden sich neun Gemeinden am Peipussee. In unserer globalisierten und säkularisierten Welt aber trifft die Assimilation auch die Altgläubigen in Estland stark. Immer mehr Schulen müssen den altorthodoxen Religionsunterricht einstellen, es bestehen starke Abwanderungstendenzen in die Städte. Die meisten estnischen Altgläubigen sind zweisprachig und sprechen sowohl estnisch als auch ihren russischen Dialekt „Pskov“, der dem der russischstämmigen Bürger Estlands stark ähnelt und viele Elemente des Weißrussischen und Mittelrussischen enthält. Doch besteht immer mehr die Tendenz zur Aufgabe des Dialekts zu Gunsten der russischen Hochsprache.

Die Altgläubigendörfer am Peipussee

Die Altgläubigen fanden am Peipussee ein Estland eine neue Heimat. Obwohl Estland ebenfalls zum Zarenreich gehörte, waren doch hier durch die protestantische Mehrheit größere religiöse Freiheiten gegeben. Die estnischen Altgläubigen sind ausnahmslos in priesterlosen Gemeinden organisiert mit einem Gemeindevorsteher an der Spitze. Die Gotteshäuser der Altgläubigen werden Bethäuser genannt. Die bis heute erhaltenen Siedlungen erstrecken sich hauptsächlich östlich von Tartu am Peipussee und beginnen mit Varnja.

Von dort aus reihen sie sich mit Kasepää beginnend über Kolkja, Alatskivi, Nina, Kallaste, Kukita und Raja Richtung Norden bis nach Mustvee auf. Wichtigster Ort und Zentrum der Altgläubigen am Peipussee ist Kolkja. Dort informiert das 1998 eröffnete Museum der Altgläubigen über Leben, Glauben, Traditionen und Kultur der Altgläubigen. Sehr anschaulich erfährt der Besucher so alles über die Glaubens- und Lebenswelt der Altgläubigen. Auch in Varnja und Mustvee gibt es solche Museen.

Dem Besucher wird schon beim Blick über das Dorf die Andersartigkeit auf, denn die Altgläubigen bauten ihre Dörfer so, wie sie es aus ihrer Heimat kannten: als Straßendörfer, in einer kilometerlangen Aufreihung der hölzernen, eingeschossigen Häuser mit den bunten Vorgärten voller Blumen an der einzigen Straße. So sind einige dieser Dörfer mehr als zehn Kilometer lang. Bei der geführten Gruppenreise „Große Kulturreise durch das Baltikum“ erkunden Sie Lebensweise, Kultur und Religion der Altgläubigen am estnischen Ufer des Peipussees.

Landwirtschaft und Fischfang in den Altgläubigendörfern

Traditionell sind die Altgläubigen vom Peipussee Fischer und Bauern, vor allem Zwiebelbauern. Daher werden sie vom estnischen Volksmund auch „Zwiebelrussen“ genannt. Überall liegen die Zwiebeln nach der Ernte zum Trocknen aus und werden kunstvoll zu Zwiebelzöpfen geflochten.

Diese Landwirtschaftszweige waren auch zu Sowjetzeiten weiterhin die Haupterwerbszweige der Altgläubigen, allerdings zu dieser Zeit in Kolchosen organisiert. Hauptabsatzgebiet war hauptsächlich Russland, vor allem Leningrad (St. Petersburg). Nach dem Ende der Sowjetunion brach die Kolchoswirtschaft zusammen, die Absatzmärkte in Russland brachen weg.

Die Folge: Heute wird in der Region nurmehr ein Achtel der zu sowjetischen Zeiten bewirtschafteten Fläche landwirtschaftlich genutzt. Zudem schnitt die Grenze, die auch EU-Außengrenze ist, Estlands Fischer am Peipussee von den traditionellen Fanggebieten ab. Nun dürfen nur noch der Küstenabschnitte innerhalb der estnischen Gewässerteile befischt werden.