Neunaugenfischerei in Lettland

Lettland ist ein Land der ausgedehnten Küsten sowie vielen fischreichen Seen und Flüssen. Das Leben von und mit der Natur gehört seit jeher zum lettischen Selbstverständnis. Kein Wunder also, dass Fische zu den beliebtesten Speisen der lettischen Küche gehören. Fragt man die Letten, welches ihre liebste Fisch-Delikatesse ist, wird die Antwort eindeutig sein: Neunauge, egal in welcher der zahlreichen Zubereitungsarten auch immer.

Kein Fisch sondern lebendes Fossil

Dabei sind die Neunaugen genau genommen gar keine Fische, auch keine Amphibien. Wissenschaftlich gesehen sind sie zwar eine fischähnliche, kiementragende Gattung, gehören aber stammesgeschichtlich zu den grätenfreien und sehr ursprünglichen Wirbeltieren und haben sich seit 500 Millionen Jahren kaum verändert. Sie werden daher auch lebende Fossilien genannt. In ihrer Gestalt erinnern ausgewachsene Neunaugen mit ihren langgestreckten Körpern an Aale und besitzen auf dem Rücken einen flossenartigen Saum der wie eine vordere und eine hintere Rückenflosse sowie eine Schwanzflosse ausgeprägt ist.

Allerdings haben sie keine neun Augen, wie der Name es vermuten lassen würden, sondern nur zwei, also eins auf jeder Körperseite. Neben dem Auge sind in Reihe pro Körperhälfte sieben Kiemenschlitze angeordnet dazu kommt auf dem Kopf noch die Nasenöffnung. So beruht die Bezeichnung Neunauge also auf einer Fehlinterpretation der Beobachtung. Was die erwachsenen Neunaugen von allen Fischarten unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie keinen Ober- und Unterkiefer, sondern ein Rundmaul haben. Dieses ist mit Hornzähnen bestückt und fungiert als Saugmaul. Mit diesem Saugmaul docken sich die Neunaugen an Fische an, raspeln mit ihren Hornzähnen Fleischstücke heraus und saugen Blut. Sofern sie nicht zu klein und gesund sind, überleben die Fische die Angriffe der Neunaugen-Parasiten fast immer. Die meisten in Europa vorkommenden Fluss- und Meeresneunaugen wandern als erwachsene Tiere ins Meer und leben dort etwa 18 Monate parasitär in Küstennähe.

Es gibt drei Arten von Neunaugen, die Meerneunaugen, die Flussneunaugen und die Bachneunaugen. Letztere werden etwa 16 cm groß, die Flussneunaugen 20-40 cm und die Meeresneunaugen bis zu 75 cm.

Die Metamorphose der Neunaugen

Neunaugen leben bevorzugt im kalten bis moderat warmen Küstenwasser und im Süßwasser von Flüssen. Als anadrome Wanderfische brauchen sie einen hindernisfreien Zugang zu Flussoberläufen, denn sie laichen in Oberläufen von Bächen und Flüssen mit Kies-Substraten, die gut von kühlem und sauerstoffreichem Wasser durchströmt werden können.

Nach etwa drei Wochen schlüpft der Neunaugennachwuchs aus den Eiern und gräbt sich ein. Alle drei Neunaugentypen durchlaufen nun ein wurmartiges Larvenstadium. Diese Querder genannten Neunaugen-Larven unterscheiden sich vollkommen von den erwachsenen Tieren. Sie haben noch keine Augen und kein Saugmaul, die ernähren sich von Plankton, das sie mit ihrem Kiemendarm aus dem Wasser filtern. Die Metamorphose vom etwa 15-20 cm langen Querder zum fischartigen Neunauge erfolgt nach vier bis fünf Jahren und dauert mehrere Wochen, in denen unter anderem aus dem Kiemendarm Kiemen gebildet werden. Die Neunaugen wechseln im Erwachsenenstadium auch den Lebensraum und wandern zum Meer.

Neunaugen sind selten geworden

Die Lebensweise, bei denen sie moderate bis kühle Wassertemperaturen brauchen, das mehrjährige Larvenstadium, das hohe Ansprüche an die Wasserqualität stellt und die Notwendigkeit naturnaher, unverbauter Flussläufe ohne Hindernisse wie Wehre oder Schleusen, hat die Neunaugen in Europa zur seltenen Art gemacht. Ja Neunaugen sind inzwischen so selten geworden, dass sie europaweit auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten stehen und ganzjährig geschützt sind. Das ist in Lettland anders. Neunaugen sind von der lettischen Speisekarte bisher nicht wegzudenken und gehören zu den traditionellen regionalen Spezialitäten und Delikatessen, da greifen dann auch EU-Artenschutzregeln nicht.

Traditionelle Fangmethoden

In Lettland werden die Neunaugen noch auf traditionelle Weise gefangen. Hauptfangrevier sind die Flüsse Salaca und Svētupe. Dort werden die Neunaugen mittels dreier Fischzäune gefangen. Diese über 150 Jahre alte Fangmethode besteht aus einem über den Fluss gebauten Steg, an dem ins Wasser hängende und Fischreusen ähnelnde Netzrahmen befestigt sind. Pro Fischzaun hängen so etwa sechzig Reusen in den Strom. Diese rund 200 m langen nicht winterfesten und eissicheren Stege werden in jedem Frühjahr neu gebaut.

In Carnikava der lettischen Hauptstadt der Neunaugen, die den „Fisch“ sogar als Wappentier führt sind acht der noch elf lettischen Neunaugen verarbeitenden Betriebe angesiedelt. Die örtlichen Fischer dort bieten Besichtigungen der Fischzäune und die Beobachtung des Fangs an. Zum Abschluss gibt es dann gegrillte Neunaugen. Jedes Jahr im August findet dort ein Neunaugenfest mit Fischmarkt statt, bei dem die lettische Delikatesse probiert und gekauft werden kann. Bei der Individualreise „Lettland zum Kennenlernen“ können interessierte Reisende Carnikava besuchen und wenn gewünscht Neunaugen probieren.

Neunaugen kulinarisch

Bereits in der Antike wurden Neunaugen als „Speisefische“ sehr geschätzt und in den Küche Europas als Lampreten bezeichnet, sie galten europaweit noch bis ins vergangene Jahrhundert hinein mit ihrem weißen, grätenfreien und aalähnlichen Fleisch als kulinarische Spezialität. Meerneunaugen wurden immer seltener gefangen als Flussneunaugen, das war nur in der Biskaya anders, wo auch der Meerneunaugenfang eine ökonomische Bedeutung hatte. Häufig anzutreffen war die Flussneunaugenfischerei von der Unterelbe und ihren Nebenflüssen ausgehend bis hin zu den Zuläufen der gesamten östlichen Ostseeküste. Besonders bedeutend waren die Fangerträge in der Memel, an der Newa und im Rigaer Meerbusen.

Im Bauch von Riga, den Zentralmarkthallen, in denen früher Zeppeline gebaut wurden, findet sich „Negis“, wie das Neunauge lettisch heißt an zahlreichen Ständen der Fischhalle und das in den unterschiedlichsten Zubereitungsarten. Es gibt sie geräuchert, gegrillt, in Öl, in Aspik und auch in Konserven, selbst aus dem lettischen Kartoffelsalat sind die Neunaugen nicht wegzudenken. Doch nicht nur im größten Markt des Baltikums finden sich die kulinarischen Spezialitäten, sie werden auch in vielen Restaurants nach verschiedensten Rezepten zubereitet. Auch Rigas Nobelgastronomie hat Gerichte wie Neunauge an Senfcreme mit Saatenbrot-Crustini und Balsamessig im Angebot.